gute Noten statt gute Qualifikation

 
Die Statistik des Wissenschaftsrats (siehe unter http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/2627-12.pdf) ist eine interessante Lektüre. Er stellte auf Seite 7 seines 862 Seiten langen Berichts fest: „Ein weiteres zentrales Ergebnis des vorliegenden Arbeitsberichtes ist die fortgesetzte Tendenz zur Vergabe besserer Noten. In den universitären Studiengängen mit traditionellen Abschlüssen – Diplom und Magister sowie Staatsexamen ohne Lehramt – ist beispielsweise der Anteil der mit „gut“ oder „sehr gut“ bewerteten Abschlussprüfungen zwischen 2000 und 2011 um knapp neun Prozentpunkte von 67,8 % auf 76,7 % gestiegen.“ Und das ausgenommene Lehramt wird nicht strenger bewertet. So ist die Durchschnittsnote für Lehramt Gymnasien Deutsch 2,0 und für Englisch 2,1. Die besten Noten kommen aus Mannheim mit je 1,3; die schlechtesten aus Augsburg mit 2,6 bzw. 2,4. In Mannheim wurden in Deutsch 67 Studenten geprüft, 62 x 1 und 5 x Note unbekannt. Englisch hatte 42 Absolventen, 41 x 1 und 1 x Note unbekannt. Augsburg hatte in Deutsch 4 Einser von 88 Absolventen und in Englisch nur einen von 65 Absolventen. In ganz Deutschland sind nur 11 Studenten (von 1.951) in Englisch durchgefallen, einer davon in Augsburg. In Deutsch fielen nur 15 von 2.527 durch, selbst in Augsburg niemand.

Wer als Elternvertreter einen Einblick in den Schulalltag erhalten hat weiß, dass diese angeblich hervorragend ausgebildeten Lehrer mit den glänzenden Examensnoten nicht in den Schulen angekommen sind. Bei manchem Lehrer fragt man sich, wie sie überhaupt ihr Examen bestanden haben. Ganz spontan fällt einem Zeitgenossen entsprechenden Alters ein Zitat aus Kreuzberger Nächte, Songtext von Gebrüder Blattschuss (1978), ein:

Ein Rentner ruft: „ihr solltet euch was schämen!“,
ein Andrer meint das läge alles am System.
Das ist so krank wie meine Leber sag ich barsch,
Die 12 Semester waren noch nicht so ganz um sonst.

 

 

Der Weg des geringsten Widerstands

 

Die Studenten suchen sich den leichtesten Weg. Wenn man - anders als bei der Grafik der Bundeszentrale für politische Bildung (siehe unter Akademisierungswahn) - nicht die relativen Zahlen eines Jahrgangs, sondern die absoluten Studienanfängerzahlen nimmt, sie nach Uni und FH differenziert und 1994 = 100 setzt, dann ergibt sich folgendes Bild:

 

(Quelle: eigene Berechnung aus Datenreport des Statistischen Bundesamts)

 

Die Beobachtung von Grözinger und Müller-Benedict (Studie der Europa-Universität Flensburg - siehe weitere Stimmen), dass sich mit der Einführung der Bachelor-Abschlüsse die Noteninflation (bei Bachelor gegenüber Diplom) an den Unis verlangsamt und an den FHs beschleunigt hat, kann das Verhalten der Studenten bei der Wahl der Hochschule beeinflusst haben. Während bis 2002 bei insgesamt gestiegenen Zahlen die Relationen (gesamt 135, Uni 134, FH 137) fast gleichblieben, gingen sie ab 2003 auseinander und erreichten in 2014 die Werte 190 (gesamt), 158 (Uni) und 251 (FH). Das war auch die Zeit in der die Noteninflation Fahrt aufnahm. Die Fachhochschulen werden also vermutlich nicht wegen des Praxisbezugs ihrer Ausbildung gewählt, sondern wegen ihrer Schmusenoten und damit der Startvorteile, mindestens beim Übergang zum Master-Studium.

 

Der Feststellung einer verlangsamten Noteninflation an Universitäten sind aber drei kritische Nachfragen anzufügen: Wurde bei dieser Feststellung berücksichtigt, dass zwischen 2006 und 2013 die absolute Zahl der Studienanfänger um 48 % gestiegen ist; an den Universitäten um 32 %. Die Studienanfängerquote stieg von 35,6 % auf 58,5 % eines Jahrgangs (= + 64 %). Wurde berücksichtigt, dass bei mehr mittelmäßigen Studenten (zusätzliche 23 % eines Jahrgangs können nicht aus der Spitze kommen) schlechtere Noten eigentlich eine logische Folge aus der Erhöhung der Studienanfängerquote wären? Sind die schlechteren Bachelor-Noten an den Universitäten so ausgeprägt, dass auch nach einer Korrektur des Effekts durch mehr mittelmäßige Studienanfänger eine Netto-Absenkung verbleibt?

 

Mindestens kann man die These aufstellen, dass es an den FHs eine doppelte Noteninflation geben muss, die trotz der sehr viel höheren Studentenzahlen (+ 76 %) mit mehr Mittelmaß noch eine Verbesserung des Notenniveaus „oben drauf“ gesetzt hat?

 

Einen weiteren Beleg für die Noteninflation lieferte (unfreiwillig) der Rechnungshof Rheinland-Pfalz in seinem Jahresbericht 2017. Er kritisierte die ungleiche Verteilung der Belastung der Professoren Abschlussarbeiten. Die Kritik wurde mit folgender Grafik für eine nicht genannte Hochschule belegt:
 

Quelle: Bericht des Rechnungshofs Rheinland-Pfalz für 2017, S. 163

 

Zielrichtung der Kritik war der Ausgleich für hohe Belastungen; der Tunnelblick des Landesrechnungshofs wurde aber schon früher kritisiert. (siehe: Anstiftung zur Steuerhinterziehung durch den Landesrechnungshof?, https://prof-dr-mueller.jimdo.com/thema/steuerhinterziehung-durch-landesrechnungshof/ und https://abgezockt.jimdo.com/staat/landes-rechnungs-hof/ ) Nach Ursachen wurde auch jetzt nicht gefragt. Die Studenten wählen den Prof., der ihre Abschlussarbeiten betreuen soll, selbst aus. Und sie wählen natürlich diejenigen, von denen sie sich die besten Noten versprechen!

 

 

System und Wirkung

 

 

In den 1970er Jahren hat sich die Rolle der Gymnasien und Hochschulen verändert. Die 68er-Generation hat ihre Öffnung für breite Schichten der Bevölkerung erreicht. Als dann die geburtenstarken Jahrgänge (1955-69) die Schule abschlossen und die Wirtschaft als Folge der Ölkrise von 1973/74 nicht genug Lehrstellen anbot, wurden viele Schulabgänger in weiterführende Schulen gezwungen und kamen irgendwann mit einem ursprünglichen Haupt- oder Realschulabschluss auch zu einem Abitur oder einer Fachhochschulreife. Auf der anderen Seite war vielen guten Schülern der Spatz in der Hand lieber als die Taube auf dem Dach, und sie entschieden sich für eine Lehre mit dem Versprechen der Übernahme nach der Ausbildung und scheuten wegen der aufkommenden Akademikerarbeitslosigkeit die Ungewissheit von Abitur und Studium.
 
Der Politik kam diese Entwicklung gelegen. Die Jugendarbeitslosigkeit konnte man in den Schleifen, die in den berufsbildenden Schulen gedreht wurden, verstecken und die Explosion der Studentenzahlen konnte man als bildungspolitischen Erfolg verkaufen. Den Hochschulen, die 1980 fast die vierfachen Studentenzahlen wie 1960 und die doppelten wie 1970 verkraften mussten (193.000 statt 54.000 bzw. 93.000 Studienanfänger - 1972 bis 1980 sank die Studienanfängerquote wegen der starken Jahrgänge sogar leicht) erklärte man, dass das nur eine vorübergehende Mehrbelastung wegen der geburtenstarken Jahrgänge für 15 bis 20 Jahre sei – natürlich könne man dafür die Kapazitäten nicht dauerhaft ausweiten und nach dem Pillen-Knick mit hohen Verlusten wieder zurückfahren.

Aber auch 40 Jahre danach sind die Studentenzahlen bei geburtenschwachen Jahrgängen (505.000 Studienanfänger in 2014) nicht wieder gesunken. Dauerhaft gesunken sind nur die Ansprüche an das Studium. In einer demografischen Ausnahmesituation sollten die Hochschulen die nicht ausreichend mit Lehrstellen versorgte Babyboom-Generation aufnehmen und durchwinken, und sie winken noch immer durch. Der Erfolg von Hochschulen wird in Absolventenzahlen, kurzer Studiendauer und geringen Durchfall- bzw. Abbrecherquoten. gemessen; warum sollen sich die Hochschulen selbst Misserfolg bescheinigen, Qualität einfordern und damit höhere Abbrecherzahlen verursachen? - Die Abgastests bei Volkswagen sind nur ein Beispiel, dass es auch anders geht!

 

 

studentische Erfahrungen

siehe auch

 


 https://prof-dr-mueller.jimdo.com/praxismodul/die-ehrlichen-sind-die-dummen/

 


Im eigenen Studium war ich zunächst in einem politischen Studentenverband aktiv. Bald habe ich aber gemerkt und kritisiert, dass hier versucht wurde, das Niveau des Studiums zu drücken um bessere Noten für alle durchzusetzen. Damit wurden aber gute Leistungen bestraft und man sägte im Ergebnis am eigenen Ast.

Als ich eine Veranstaltung mit einem fachlich renommierten Professor gewählt habe war die Gruppe klein und das Niveau hoch. Eine Parallelgruppe war überfüllt, die Lernbedingungen schlecht, der Prof. noch nicht sehr erfahren und anspruchslos; aber in der Klausur waren seine Anforderungen niedriger und seine Noten besser. Das hatte die Wirkung, dass danach auch viele leistungsbereite Studenten den politisch aktiven in die überfüllten Vorlesungen gefolgt sind, denn die hatten durch ihre Vernetzung mit den höheren Semestern die besten Informationen, wo man die billigsten Scheine bekommt.

5 Jahre nach dem Studium habe ich viele ehemals politisch aktive Studenten wiedergesehen. Ich bereitete mich auf die Fortbildungsprüfung zum geprüften Bilanzbuchhalter vor und sie waren beim gleichen Anbieter in einer Maßnahme des Arbeitsamts für arbeitslose Wirtschaftswissenschafter! Und sie schimpften wieder auf die Uni, die sie nicht angemessen ausgebildet hätte. Welcher Weg war also der richtige?
 
Die meisten Studenten wollen einfache Inhalte, die schnell gelernt und danach auch schnell vergessen werden können. Es geht ihnen um gute Noten und nicht um eine gute Qualifikation. Sie wollen den Weg des geringsten Widerstands gehen, auch wenn das – wie eigentlich immer – der falsche Weg ist. Wer als Professor beliebt sein will, muss diesen Wünschen nachkommen und seinen Studenten den falschen Weg zeigen – gleichgültig ob in Unkenntnis oder wider besseren Wissens. Wer den richtigen Weg zeigen will wird auf Bewertungsseiten im Internet zerfleischt. Politikern und Hochschulleitungen, die hauptsächlich an hohen Absolventenzahlen und niedrigen Durchfall- und Abbrecherquoten interessiert sind, kann diese unheilige Allianz aus typischen Studenten und beliebten Professoren nur recht sein. Längerfristig kommt es dadurch aber zu einer Bildungsabschlussinflation, bei der nur die Anzahl der Hochschulabsolventen erhöht wird, der Wert ihrer Abschlüsse aber sinkt.

 

 

Aus den Hochschulen werden "Flachschulen"!