2. Nichtangriffspakte an den Hochschulen

 

Dieses Kapitel wurde - mit seiner freundlichen Genehmigung - aus dem Working Paper 5/2012 von Prof. Dr. Stefan Kühl, Universität Bielefeld (stefan.kuehl@uni-bielefeld.de) http://www.uni-bielefeld.de/soz/forschung/orgsoz/Stefan_Kuehl/pdf/Stefan-Kuehl-Working-Paper-5_2012-Nichtangriffspakte-an-den-Hochschulen-Endfassung-21112012.pdf übernommen. Dieser Beschreibung der Noteninflation und seiner Ursachen hat der Verfasser nur wenig hinzuzufügen.

 

 

2.1. Weswegen die Noten an den Hochschulen immer besser werden


Dass man an Universitäten oder Fachhochschulen in den meisten Fächern gute oder sehr gute Noten bekommt, ist seit Längerem bekannt. Bei Absolventen aus Fächern wie Betriebswirtschaftslehre, Soziologie oder Psychologie, in denen siebzig bis neunzig Prozent mindestens mit einer Zwei im Abschlusszeugnis auf den Arbeitsmarkt entlassen werden, sind gute Noten für die Personal er in der Regel nur noch ein Hygienefaktor –  ein sehr gutes oder gutes Zeugnis wird selbstverständlich vorausgesetzt, ohne dass dies aber in irgendeiner Form über Einstellung oder Nichteinstellung entscheidet. In Fächern wie Pädagogik, Biologie oder Geografie müssen sich Dozenten gegen über Studierenden fast schon dafür rechtfertigen, wenn sie für eine Hausarbeit oder ein Referat lediglich ein „Befriedigend“ vergeben. 

Die Noteninflation hat sich – so das Ergebnis einer neuen Studie des Wissenschaftsrates – weiter verstärkt. Auf einem bereits sehr hohen Niveau haben sich in den letzten sechs, sieben Jahren die Noten noch einmal signifikant verbessert. Während im Jahr 2000 im Durchschnitt „nur“ siebzig Prozent eines Abschlussjahrgangs eine gute oder sehr gute Note erhalten haben, waren es im Jahr 2011 über achtzig Prozent eines Jahrgangs. Während 2005 noch knapp fünf Prozent der Studierenden ein „Ausreichend“ im Abschlusszeugnis stehen hatten, sind es inzwischen nur noch knapp über ein Prozent. ( Siehe dazu die Studie des Wissenschaftsrats (2012): Prüfungsnoten an Hochschulen im Prüfungsjahr 2010. Arbeitsbericht mit einem wissenschaftspolitischen Kommentar des Wissenschaftsrates. Hamburg 9.11.2012 (http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/2627-12.pdf ).

[Ergänzung des Verfassers:] In dem Arbeitsbericht des Wissenschaftsrates wurden auf 862 Seiten eindeutige Feststellungen getroffen. „In den universitären Studiengängen mit traditionellen Abschlüssen – Diplom und Magister sowie Staatsexamen ohne Lehramt – ist beispielsweise der Anteil der mit „gut“ oder „sehr gut“ bewerteten Abschlussprüfungen zwischen 2000 und 2011 um knapp neun Prozentpunkte von 67,8 % auf 76,7 % gestiegen.“ (Wissenschaftsrat, Prüfungsnoten an Hochschulen im Prüfungsjahr 2010, Hamburg 2012, S. 7) Es ist anzunehmen, dass sich diese Entwicklung in den letzten 6 Jahren fortgesetzt hat. „Die Durchschnittsnote der Masterprüfungen ... lag in den Prüfungsjahren 2010 und 2011 bei 1,8 ...“ (ebenda, S. 41) Nach den Prüfungsordnungen soll eine durchschnittlichen Anforderungen genügende Leistung mit 3,0 bewertet werden. Wenn die durchschnittlichen Leistungen weit überdurchschnittlich sind, können die gestellten Anforderungen nur weit unterdurchschnittlichen Ansprüchen genügen! Der Wissenschaftsrat listet auch eine Fülle von teilweise absurden Ergebnissen einzelner Hochschulen auf, wie z.B. den Studiengang Lehramt Gymnasien Anglistik/Englisch der Universität Mannheim mit 42 Absolventen, davon 41 mit „sehr gut“, gefolgt von der Universität Stuttgart mit 56 „sehr gut“ von 66 Absolventen. (vgl. ebenda, S. 320) [Ende der Ergänzung]

Für die allseits beklagte Noteninflation lässt sich eine Vielzahl von Gründen anführen: eine politisch begründete laxe Benotungspraxis gerade in den Geistes- und Sozialwissenschaften, gute Noten als Belohnung für Studierende, die in vermeintlich schwierigen Fächern wie Biologie, Chemie, Physik oder Mathematik durchgehalten haben, kompensatorisches „Verschenken“ von guten Noten in Fächern mit schlechten Berufsaussichten, das Interesse von Professoren, den „eigenen“ Studierenden „bildungsbiografische Vorteile“ zu verschaffen oder – gerade an den privaten Hochschulen – der Umstand, dass man als Professor Schwierigkeiten damit hat, Studierende, die hohe Studiengebühren gezahlt haben, mit schlechten Noten nach Hause zu schicken. Jeder kann sich die ihm genehmen Gründe für die überraschend guten Noten in Deutschland heraussuchen.

2.2. Die Vermeidung von Auseinandersetzungen


Die über achthundert Seiten dicke Studie des Wissenschaftsrats zeigt, dass ein Trend stabil ist: die nach Fächern sehr unterschiedliche Benotungspraxis. In den Sprach- und Kulturwissenschaften werden in den Magister, Diplom- und Masterstudiengängen in der Regel Durchschnittsnoten vergeben, die besser als eine Zwei sind, während die Juristen das gesamte Notenspektrum ausschöpfen und nach wie vor einen überwiegenden Teil ihrer Studierenden nur mit einem „Befriedigend“   auf den Arbeitsmarkt entlassen. Die Physiker, Chemiker und besonders die Biologen vergeben nach wie vor fast nur gute bis sehr gute Abschlussnoten, während sich in der Medizin und der Pharmazie fast die Hälfte der Studierenden mit einem Befriedigend oder einem Ausreichend zufriedengeben muss. 

Bei diesen unterschiedlichen Benotungspraktiken spielt der Aspekt, dass in Fächern wie Rechtswissenschaft und Medizin, in denen für spezifische Professionen ausgebildet wird, über eine vergleichsweise harte Benotung bestimmte Mindeststandards sichergestellt werden, eine zentrale Rolle. Die Anonymität von in großen Hörsälen geschriebenen Klausuren stellt sicher, dass sich Loyalitäten mit einzelnen Studierenden gar nicht erst ausbilden können. Die externe Kontrolle bei den Staatsexamen in Medizin, Jura oder bei Lehramtsstudiengängen hat immer schon sichergestellt, dass sich eine allzu laxe Benotungspraxis nur schwerlich ausbilden konnte.

In den geistes-, sozial- und naturwissenschaftlichen Fächern versuchen Dozenten, schlechte Noten für Studierende möglichst zu vermeiden. (Siehe zu vergleichbaren Entwicklungen in den USA: Kaube, Jürgen (2012): Uni-Abschlüsse.  Die große Notenblase. In: FAZ 14.11.2012.) Schlechte Klausurergebnisse führen dazu, dass Studierende in die Sprechstunde kommen, weil sie wissen wollen, was sie falsch gemacht haben. Das Durchfallen bei einer Hausarbeit führt nicht nur zu Protesten der Studierenden, sondern schlimmstenfalls auch dazu, dass sie diese vielleicht noch einmal schreiben wollen. In mündlichen Prüfungen müssen Dreien, Vieren oder Fünfen gegenüber den Prüflingen gerechtfertigt werden, während eine Eins oder Zwei sowohl Prüfern als auch Prüflingen Zeit im Nachgespräch erspart. Es herrscht ein Nichtangriffspakt zwischen Lehrenden und Studierenden. ( Der Begriff des „Nichtangriffspaktes“ wird in der Wissenschaftsforschung in verschiedener Form verwendet. Bourdieu spricht von einem „Nichtangriffspakt zwischen der Soziologie und der Gesellschaft“, Schimank von einem „informellen wechselseitigen Nichtangriffspakt“ zwischen den Professoren“ beim Schutz ihrer Einflussbereiche. ) Motto: Belästige mich nicht bei meiner exzellent geclusterten Forschung, dann bekommst Du von mir ohne großen Aufwand auch exzellente Noten.

Wie verändert sich dieser Trend durch die Umstellung von Diplom- und Magisterstudiengängen   auf Bachelor- und Masterstudiengänge?

 

2.3. Die Angst der Professoren vor der Klage


Der Trend zur Noteninflation findet sich – bei kleinen Variationen – sowohl bei den alten Diplom-, Magister- und Staatsexamens- als auch bei den neuen Bachelor- und Masterabschlüssen. Während in den auslaufenden Diplom- und Magisterstudiengängen an den Universitäten bereits über fünfundachtzig Prozent der Absolventen ein Gut oder Sehr gut erreichen, steigert sich die Zahl bei den Masterabschlüssen auf über neunzig Prozent. Bei den Bachelorabschlüssen an den Universitäten liegt die Zahl der guten und sehr guten Abschlüsse bei achtzig Prozent.

Die Vermehrung von Prüfungslasten in den neuen Studiengängen scheint also nicht dazu geführt zu haben, die Noteninflation zu stoppen. Vielmehr ist in den meisten Fächern sogar mittelfristig das Gegenteil zu erwarten. Weil in den Bachelor- und Masterstudiengängen jetzt schon ab dem ersten Semester Prüfungen absolviert werden müssen, deren Noten für das Abschlusszeugnis relevant sind, setzt der Nichtangriffspakt früher ein. Dreien oder Vieren in Klausuren führen fast automatisch dazu, dass die Studierenden versuchen, sich in späteren Semestern noch zu verbessern. Eine schlechte Note in einem Wahlfach führt dazu, dass man einfach ein anderes einfacheres Wahlfach nimmt. Veranstaltungen, in denen Hausarbeiten geschrieben werden müssen, werden gar nicht mehr gewählt, weil man weiß, dass man in Veranstaltungen mit Essays oder Referaten als Prüfungsform bessere Noten bekommt.

Und wenn dann – beispielsweise beim Abfassen einer Bachelorarbeit – die Wissenslücken doch allzu offensichtlich werden, dann zögern Lehrende, dies durch eine schlechte Note zu markieren. Schließlich kann jede abschlussrelevante Benotung von Studierenden als Verwaltungsakt interpretiert und deswegen als Anlass für Klagen vor den Verwaltungsgerichten genommen werden. Und welches Mittel zur Reduzierung der wachsenden Klagebereitschaft von Studierenden ist effizienter als die Vergabe guter Noten?

2.4. mögliche Folgen


[Ergänzung des Verfassers:] 1923 benötigte die Regierung Geld und beauftragte die Reichsbank, ihr welches zu drucken. Die Folgen sind allgemein bekannt. Wenn jetzt die Regierungen zur Bekämpfung des Fachkräftemangels die Hochschulen beauftragen, bei Abstrichen an den Ausbildungsinhalten und mit „Schmusenoten“ mehr Absolventen zu produzieren, wird eine ähnliche Wirkung ausgelöst. Statt der Geldentwertung kommt es nun zu einer Entwertung von Schul- und Hochschulabschlüssen.