In Corona-Zeiten werden Grundrechte nicht mehr erstgenommen, auch wenn es nicht um die Pandemie geht. Die Regierung hat gelernt, dass sie die Macht der Staatsorgane jetzt ausweiten kann, und sie nutzt ihre Chance. Wer die bisherige verfassungsjuristische Lehrmeinung „Grundrechte sind Abwehrrechte gegen den Staat“ vertritt, wird bereits vom Verfassungsschutz wegen „Verfassungsschutzrelevanter Delegitimierung des Staates“ verfolgt (siehe https://www.tagesschau.de/inland/verfassungsschutz-querdenken-baden-wuerttemberg-101.html, mehr auf https://www.prof-mueller.net/corona/politik/unterdrückung/). In dieser Salami-Taktik werden immer mehr Scheiben von den Abwehrrechten der Bürger abgeschnitten.
Am 24.06.21 hat der Bundestag Art. 103 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 50 der Europäischen Grundrechtecharta missachtet. Das „Doppelbestrafungsverbot“ des Art. 103 GG
Art 103 Abs. 3 GG
Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.
ist nach Art. 25 GG
Art 25
Die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes sind Bestandteil des Bundesrechtes. Sie gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.
völkerrechtskonform auszulegen. Unter Berücksichtigung von Art. 50 der Europäischen Grundrechtecharta
Europäische Grundrechtscharta: Artikel 50
Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.
handelt es sich um ein Doppelverfolgungsverbot, wonach niemand für die gleiche Tat mehrfach verfolgt werden darf, also auch nicht mehrfach angeklagt. Nach Art. 3 Abs. 1 GG sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Grundrechte gelten also nicht nur für sympathische, sondern auch für üble Zeitgenossen, also auch für Mörder oder Kriegsverbrecher, und es macht keinen Unterschied, ob sie die Rechte, die sie für sich selbst reklamieren, auch Anderen einräumen würden.
Diese Säule des Rechtsstaats wurde am 24.06.21 von den Fraktionen der GroKo mit Unterstützung der AfD eingerissen. Warum dieser „Beifall von der falschen Seite“ die Regierung nicht dazu gebracht hat, ihr Vorhaben aufzugeben, wird ihr Geheimnis bleiben. Von Lockdown-Kritikern wird schließlich verlangt, dass sie ihre Meinung für falsch halten, weil die AfD sie für richtig hält. An diesem Tag wurde das sog. „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“ lt. Bundestags-Drucksache 19/30399 beschlossen, womit an § 362 der Strafprozessordnung
§ 362 Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten
Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten des Angeklagten ist zulässig, ….
folgende Nr. 5 angefügt wurde:
„5. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuches), Völkermordes (§ 6 Absatz 1 des Völkerstrafgesetzbuches), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Absatz 1 Nummer 1 und 2 des Völkerstrafgesetzbuches) oder Kriegsverbrechens gegen eine Person (§ 8 Absatz 1 Nummer 1 des Völkerstrafgesetzbuches) verurteilt wird.“
Alle Freisprüche in diesen Fällen stehen also unter dem Vorbehalt, dass später keine neuen Beweismittel auftauchen. Bisher mussten die Staatsanwaltschaften sorgfältig ermitteln und nach allen Beweisen suchen, denn später auftauchende Beweismittel waren nach einem Freispruch wegen des Doppelverfolgungsverbots nicht mehr verwertbar. Jetzt können sie auch mit unzureichenden Beweisen einfach einmal eine Anklage erheben und austesten, ob sie dem Gericht nicht vielleicht doch ausreichen. Der Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ wird mehr und mehr ausgehöhlt.
Das Doppelverfolgungsverbot galt in Deutschland seit dem 01.10.1879, als die Reichs-Strafprozessordnung vom 01.02.1877 in
Kraft trat. Und das Kaiserreich war keine Demokratie. Selbst die Nazis haben erst 1943 eine mit der jetzigen Regelung vergleichbare Vorschrift erlassen, allerdings für alle Freisprüche, nicht nur
wegen Mordes. 1950 hat der Bundestag diese Möglichkeit wieder abgeschafft und die Rechtslage wie unter Bismarck wiederhergestellt.
Man muss nicht die These von der Corona-Diktatur vertreten um festzuhalten, dass selbst die Nazis 10 Jahre lang mit dem Doppelverfolgungsverbot leben konnten, mit dessen scheibchenweiser
Abschaffung jetzt nach 8 Jahren GroKo begonnen wurde. Es bleibt zu hoffen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte § 362 Nr. 5 StPO für europarechtswidrig erklären wird. Auf das
BVerfG, das unter seinem jetzigen Vorsitzenden wegen Corona keine Grundrechte mehr schützt, dürfte man wohl nicht hoffen können.
Die drei regierungskritischen Reden der ersten Lesung vom 11.06.21 im Wortlaut (Quelle: https://dserver.bundestag.de/btp/19/19234.pdf, S. 30371):
Dr. Jürgen Martens, FDP
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kollegen! In der Tat, Herr Kollege Luczak, die Vorstellung, Jahrzehnte nach einem Verfahren aufgrund geänderter technischer Möglichkeiten dieses
noch einmal zu führen und diesmal vielleicht mit einem anderen Ergebnis, mit dem Ergebnis einer Verurteilung zuungunsten des Angeklagten, hat auf den ersten Blick etwas Bestechendes an sich, weil
damit einer materiellen Gerechtigkeit Genüge getan werden kann, die wir uns alle wünschen und die wir vom Rechtsstaat auch erwarten. Aber gleichzeitig müssen wir uns fragen: Ist das so, oder
haben wir nicht auch im Rechtsstaat Prinzipien zu beachten, die den Rechtsstaat als solchen erst formen? Der Rechtsstaat ist dadurch Rechtsstaat, dass er eben die Strafverfolgung aus der Hand der
Betroffenen, der Opfer und ihrer Angehörigen, nimmt und für den Staat handelt. Das Ziel ist nicht Rache oder Genugtuung. Das Ziel ist die Herstellung eines Rechtsfriedens. Das mag unvollkommen
sein, und das ist es in vielen Fällen auch. Gerechtigkeit wird auch nicht immer erreicht. In Zivilverfahren ist es so, dass der Unterlegene im Regelfall davon ausgeht, dass das Urteil ungerecht
ist. So wird es in vielen Fällen sein. Mit dieser fehlenden oder schwankenden Gerechtigkeit müssen wir leben, wenn wir ein Rechtsstaat sein wollen, der nicht um der Zweckverfolgung willen
arbeitet, sondern sich an Prinzipien hält, an Vorgaben, die er sich selber setzt. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Friedrich Straetmanns [DIE LINKE]) Deswegen
wird ein Rechtsstaat zum Beispiel niemals zur Wahrheitserforschung auf das naheliegende Mittel der Folter zurückgreifen können. Er wird immer die Würde des Menschen beachten, auch wenn etwas
Anderes vielleicht zweckmäßig wäre. So ist es auch in diesem Fall: Wir haben den Grundsatz des Rechtsfriedens durch ein Urteil, der nach unserer Verfassung nicht infrage gestellt werden kann. Es
gibt einzelne Durchbrechungen, ja, aber sie müssen Ausnahmen bleiben. Hier ist die Frage – Herr Kollege Fechner hat es angesprochen –, ob es, wenn wir ein Türchen aufmachen, nicht vielleicht doch
später einmal Stück um Stück erweitert wird und so den Rechtsstaat unter den Vorbehalt technischer Möglichkeiten stellt. Sie haben eben bei Herrn Reusch bereits gehört, wie viele da sind, die
sich freuen, dieses Türchen möglichst weit aufreißen zu können. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Friedrich Straetmanns [DIE LINKE]) Wenn ich
von Herrn Fechner höre, dass er verspricht, dass die Sozialdemokratie dem nicht zustimmen würde, dann muss ich fragen: Wie lange gilt dieses Versprechen? (Beifall bei der FDP sowie bei
Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Friedrich Straetmanns [DIE LINKE] – Benjamin Strasser [FDP]: Wie bei der Vorratsdatenspeicherung!) Bis zum 26. September? Oder ist es von
gleicher Substanz wie die Zusagen, die Kronzeugenregelung niemals über den Terrorismus hinaus auszuweiten oder die Onlinedurchsuchung auf ganz wenige Tatbestände zu beschränken und, und, und? Wir
müssen leider historisch die Erfahrung machen, dass diese Türchen, wenn sie geschaffen werden, auch aufgemacht werden, und das sollten wir verhindern. (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Thomas Seitz [AfD])
Friedrich Straetmanns, Linke
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorliegend beraten wir über einen Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen, der mit den blumigen Worten „Gesetz zur Herstellung
materieller Gerechtigkeit“ daherkommt. Tatsächlich handelt es sich aber um einen schwerwiegenden Angriff auf die grundgesetzliche Ordnung, namentlich auf das Doppelbestrafungsverbot des Artikels
103 Absatz 3 Grundgesetz. Mit dem Grundgesetz wurde im Spannungsfeld zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit die Rechtssicherheit eindeutig höher gewichtet. Auch wenn manche
Fälle, die mit Freispruch enden, unsäglich wirken – für einen Freispruch unter Vorbehalt lässt das Grundgesetz keinen Raum. Wo wir schon bei unsäglichen Fällen sind: Es wird solche
bedauerlicherweise weiter geben. Ein Beispiel hierfür ist der Fall Oury Jalloh. Dieser war im Januar 2005 im Polizeigewahrsam verbrannt. Die zuständigen Polizeibeamten wiesen jegliche
Verantwortung von sich. Seither wird in der Öffentlichkeit darüber diskutiert, wie in aller Welt der gefesselte Mann bitte seine Matratze anzünden konnte, so wie von den Polizeibeamten geäußert.
„Oury Jalloh – das war Mord“, diese Parole findet man immer wieder, beispielsweise an Hauswänden. Der Bundesgerichtshof hat den Fall nunmehr entschieden und bestätigte eine Verurteilung wegen
fahrlässiger Tötung. Den Verdacht, dass Polizeibeamte Oury Jalloh misshandelten und dann in Verdeckungsabsicht einen Suizid inszenierten, wird das Land Sachsen-Anhalt nie mehr ausräumen können,
da die Ermittlungen eine Tendenz zur Nichtverfolgung polizeilicher Straftaten aufwiesen. Es gäbe unzählige Möglichkeiten, materielle Gerechtigkeit herzustellen, ohne die Axt an das Grundgesetz
anzulegen, diese werden allerdings von dieser Koalition schlichtweg ignoriert. So könnten Sie beispielsweise die Justiz endlich ertüchtigen, wie Sie es zu Beginn dieser Legislatur vollmundig
angekündigt haben. Im Rahmen dieser Ertüchtigung könnten zusammen mit den Ländern Institutionen eingerichtet werden, die vernünftige Ermittlungen bei möglichen Straftaten seitens Polizeibeamter
ermöglichen. Ein solches Vorgehen ist dringend nötig. (Beifall bei der LINKEN) Denn es vergeht gefühlt keine Woche, in der nicht rechtsradikale Chatgruppen in Polizeieinheiten, sogenannte
Munitionsverluste oder ein Todesfall unter widersprüchlichen Umständen in Polizeigewahrsam auftreten. Was Sie auch zusammen mit den Ländern tun könnten, ist, Opfer von schweren Gewalttaten neben
dem Strafrecht nicht mit den Folgen alleinzulassen und den institutionellen Opferschutz zu stärken. (Beifall bei der LINKEN) So könnten Sie zum Beispiel Ausländern, die in Deutschland Opfer
rassistischer oder vorurteilsmotivierter Gewalt werden, ein unbedingtes Bleiberecht in der Bundes-republik gewähren, wie es meine Fraktion fordert. Die Liste wäre noch lang; aber ich komme zum
Schluss. Was Sie hier vorhaben, ist so falsch, dass Sie in der Sache nicht einmal das Bundesministerium der Justiz hinter sich haben. Lassen Sie es bitte. (Beifall bei der LINKEN)
Canan Bayram, Grüne
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Angeklagter wird freigesprochen. Jahrzehnte später tauchen Beweise auf. Soll er wegen derselben Tat noch einmal angeklagt
werden? Vermutlich würden Angehörige mit Ja antworten; man kann sich das gut vorstellen. Aber Sie und ich, wir haben als Gesetzgeber eine andere Aufgabe. Wir müssen Sorgfalt darauf verwenden, und
dazu gehört, aus dem heiklen Gegenstand kein Wahlkampfthema zu machen. Beides ist in Gefahr, wenn zwei Wochen vor Ende der Sitzungen dieser Legislatur ein solcher Gesetzentwurf vorgelegt wird,
den das Ministerium nicht vorlegen wollte und bei dem die Koalition zur Debatte in der heutigen Sitzung erst gezwungen werden musste. Ich will mich heute darauf konzentrieren, Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, drei Fragen mitzugeben, die wir gerne in der Ausschussberatung diskutieren können, auf die es meines Erachtens ankommt und die Sie beantworten müssen.
Die erste Frage: Sind über die im Zusammenhang mit einer Wiederaufnahme vielfach in der Presse behandelten beiden Mordfälle von 1981 – das haben Sie angeführt, Herr Luczak – und 1993 hinaus
weitere vergleichbare Fälle bekannt, und wäre Ihr Gesetz, wenn es jetzt durchkäme, wegen des Rückwirkungsverbots auf diese Fälle überhaupt anwendbar? Die zweite Frage: Welche Bedeutung hat neben
dem Grundsatz des Artikels 103 Absatz 3 des Grundgesetzes, der schon von einigen erwähnt wurde, der in der Begründung des Gesetzentwurfs nicht erwähnte Artikel 50 der europäischen
Grundrechtecharta, der lautet: „Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem
Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden“? Die dritte Frage: Ist der Koalition bekannt, dass die Regelung zur Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten Angeklagter seit Inkrafttreten
der Reichs-Strafprozessordnung einzig auf nationalsozialistische Initiative hin im Jahr 1943 auf sämtliche Freisprüche erstreckt wurde? Sie haben hier betont, Herr Fechner, dass Sie für die
Ausweitung auf weitere Freisprüche, auf weitere Fälle, nicht zu haben sind; aber dass die Gefahr einer Ausweitung besteht, hat Herr Reusch mit seinem Lob und Applaus für Ihren Gesetzentwurf
deutlich gemacht. Die Praxis, die auf Initiative der Nationalsozialisten eingeführt wurde, wurde 1950 in der Bundesrepublik vom Bundestag mit der Strafprozessordnung wieder auf den Ursprungstext
zurückgeführt, und dabei sollten wir es belassen, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie des Abg. Friedrich Straetmanns [DIE
LINKE])